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Nachruf auf Prof. Dr. Regina Becker-Schmidt

Nachruf auf Prof. Dr. Regina Becker-Schmidt

Die Soziologin ist am 14. September 2024 m Alter von 86 Jahren verstorben.

Erst vor vier Jahren, am 24. September 2020, ehrte die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) die bedeutende Soziologin mit dem Preis für ein hervorragendes soziologisches Lebenswerk. Der Titel ihres Vortrags im Rahmen der Preisverleihung lautete „Kritik als Ferment der Soziologie“. In diesem Bild verdichtet sich ihre Überzeugung, dass Gesellschaftskritik und Erkenntniskritik in der Soziologie aufeinander verweisen und ineinander aufgehen. Soziologische Gesellschaftsanalysen und empirische Studien sollten Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnisse aufdecken, davon war sie überzeugt. „Wenn das außer Betracht fällt, dann wird Soziologie zu einer akademischen Veranstaltung, die Indifferenz in den Dienst eines abgeklärten Ehrgeizes stellt“ (Becker-Schmidt 2012, S. 306). Mit ihrer Über-zeugung, dass Soziologie eine Wissenschaft ist, die das Potenzial hat, zwischen dem zu unterscheiden, was Gesellschaft ist und was sie sein könnte, knüpfte Regina Becker-Schmidt an die Kritische Theorie von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer an. Als feministische Wissenschaftlerin kritisierte sie zugleich den Androzentrismus in den Ar-beiten ihrer Lehrer und verfolgte einen eigenen gesellschaftstheoretischen Ansatz. Im Zentrum ihres Denkens stand die Entwicklung einer feministischen Gesellschafts- und Subjekttheorie (Becker-Schmidt 2017), die zugleich der Kritischen Theorie verpflichtet blieb. Ihr beharrliches Erkenntnisinteresse setzte dabei immer an gesellschaftlichen Widersprüchen, subjektiven Konflikten und erkenntnistheoretischen Spannungsverhältnissen an. Dies betrifft sowohl die Spannungen zwischen Kritischer Theorie und feministischer Geschlechterforschung als auch „zwischen Objekt-Subjekt und Subjekt-Objekt-Relationen, zwischen Gesellschaftskritik und epistemologischer Reflexion, zwischen Soziologie und Psychoanalyse“ (Becker-Schmidt 2017a, S.9). Regina Becker-Schmidt vermittelte und verkörperte dialektisches Denken – als Form einer strengen, unerbittlichen Arbeit an theoretischen Konzepten, ohne dabei von empiri-schen Phänomenen abzusehen. Wer sich auf ihre soziologischen Reflexionen einlässt, folgt den Spuren eines kritischen Denkens, das sich jeder Komplexitätsreduktion verweigert.


Ihr wissenschaftliches Interesse für das komplexe Wechselspiel von objektiven und subjektiven Verhältnissen deutete die am 6. Mai 1937 im damaligen Ostpreußen in eine Arztfamilie geborene Regina Becker-Schmidt biografisch: der frühe Tod des Vaters, die familiäre Abstiegserfahrung im Zusammenhang mit der gemeinsamen Flucht mit der Mutter und vier Geschwistern in den ‚Ruhrpott‘, verbunden mit eigenen Fremdheits- und Diskriminierungserfahrungen. 
Dabei betonte sie die Brüche zwischen den bildungsbürgerlichen Idealen ihrer Mutter, den tatsächlichen Lebensverhältnissen der Familie und ihrer eigenen Nähe zum Milieu der Bergarbeiter:innen, ohne jedoch zu Letzterem dazuzugehören (Dölling 2007). 


Ab 1956/57 studierte Regina Becker-Schmidt Soziologie, Sozialpsychologie, Philosophie und Ökonomie an der Universität Frankfurt am Main, 1960/61 an der Sorbonne in Paris Soziologie und Kulturanthropologie. Nach ihrem Studienabschluss als Diplom-Soziologin war sie von 1963 bis 1968 als wissenschaftliche Mitarbeiterin und direkt im Anschluss bis 1972 als wissenschaftliche Assistentin am Frankfurter Institut für Sozialforschung tätig. Sie begann ihre Promotion bei Theodor W. Adorno und wechselte nach dessen Tod zu Ludwig von Friedeburg, bei dem sie die Dissertation 1971 abschloss. Von 1973 bis 2002 war sie Professorin für Sozialpsychologie am Psychologischen Institut der Universität Hannover (später Institut für Soziologie und Sozialpsychologie). Nach ihrer Emeritierung war sie weiterhin als Dozentin und Autorin tätig.


Regina Becker-Schmidt engagierte sich bereits bald nach der Berufung in der damals noch sehr jungen westdeutschen Frauenforschung. Bereits 1976 wirbt sie ein Forschungsprojekt in dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ausgeschriebenen Schwerpunkt „Integration der Frauen in die Berufswelt“ ein. Gemeinsam mit einem Team von Mitarbeiterinnen und unter Beteiligung von 30 Studentinnen untersucht sie die widersprüchlichen Erfahrungen von Frauen zwischen Fabrikarbeit und Familie. Diese Studie gilt seitdem als exemplarisch für gelungene empirische Sozialwissenschaft und Irene Dölling vergleicht deren „Aussagekraft und methodische Stringenz“ (2007, S. 366) mit der legendären sozialpsychologischen Studie Die Arbeitslosen von Marienthal. Zwei Titel der aus dem Projekt hervorgegangenen Publikationen werden bis heute genannt, weil sie die Ergebnisse der Studie im O-Ton der interviewten Arbeiterinnen und Mütter auf den Punkt bringen und zugleich den theoretischen Fokus der Widerspruchs- und Konfliktanalysen vermitteln. 1982 erschien das Buch Nicht wir haben die Minuten, die Minuten haben uns. Zeitprobleme und Zeiterfahrungen von Arbeitermüttern in Fabrik und Familie (Becker-Schmidt u.a.) 1984 folgte Eines ist zu wenig, beides ist zu viel. Erfahrungen von Arbeiterfrauen zwischen Familie und Fabrik (Becker-Schmidt u.a.).


Mit Bezug auf diese seither immer wieder zitierten Bücher, entwickelt Regina Becker-Schmidt, auch im engen kollegialen Dialog, insbesondere mit Gudrun-Axeli Knapp, ihr Theorem der doppelten Vergesellschaftung von Frauen. Sie schärft den Blick für die widersprüchliche Trennung und gleichzeitige, verdeckt gehaltene Verknüpfung von Produktions- und Reproduktionssphäre. Dabei reflektiert sie grundlegend, wie Vergesellschaftung aus einer geschlechtertheoretischen Perspektive soziologisch erfasst werden kann (Becker-Schmidt 2003). Analog zu Klassenverhältnissen betont sie die Bedeutung von Geschlechterverhältnissen für gesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen. Damit verbunden wird Geschlecht als Strukturkategorie, Gesellschaft als Strukturzusammenhang gefasst, der nach bestimmten Regeln funktioniert, die das Verhältnis sozialer Gruppen regulieren. Frauen und Männer bestimmt Regina Becker-Schmidt als Genusgruppen, wobei Frauen Männern grundsätzlich untergeordnet sind. Neben dieser an Marx geschulten Bestimmung von Deklassierungsverhältnissen reflektiert sie gleichzeitig Fragen von Subjektivität und Identität, wobei sie sich an psychoanalytischen Theorien abarbeitet, Geschlecht als Konfliktkategorie bestimmt und geschlechtsbezogene Identitätszwänge aufdeckt. Diese Perspektive arbeitet sie gemeinsam mit Gudrun-Axeli Knapp in der 1987 erschienenen und für gewerkschaftliche Bildungsarbeit konzipierten Monografie Geschlechtertrennung – Geschlechterdifferenz. Suchbewegungen sozialen Lernens besonders anschaulich heraus.


Regina Becker-Schmidt hat ihr Projekt einer subjekttheoretisch differenzierten feministischen Gesellschaftstheorie nie aus den Augen verloren. Dazu zählte für sie auch die intensive Auseinandersetzung mit den vielstimmigen und kontroversen Entwicklungen der Geschlechterforschung sowie der Queer Studies, die sie immer wieder im engen Dialog mit Gudrun-Axeli Knapp führte (Becker-Schmidt/Knapp 2023, Knapp 1998). Auch hier spürte sie Spannungsverhältnissen zwischen unterschiedlichen Theorietraditionen nach und identifizierte Anschlüsse sowie Unvereinbarkeiten zwischen dem eigenen und dem Denken anderer. Ihre differenzierten Denkbewegungen finden sich in zahlreichen Aufsätzen, von denen sie 2017 eine systematische Auswahl unter dem Titel Pendelbewegungen – Annäherungen an eine feministische Gesellschafts- und Subjekttheorie herausgegeben hat. Das Buch enthält Beiträge aus den Jahren 1991 bis 2015 und vermittelt, mit welcher Tiefe und argumentativen Beharrlichkeit Regina Becker-Schmidt feministische Theoriedebatten kontinuierlich beobachtet, begleitet und mitgestaltet hat. Zugleich hat sie sich grundlegend mit soziologischen Theorien sowie deren Grenzen und Reichweite für gesellschaftstheoretische Problemstellungen befasst.


Als feministische Wissenschaftlerin imponierte und prägte sie Generationen von Studierenden mit ihrem präzisen Denken und ihrem konsequenten Widerspruchsgeist. Ihre sprachliche Exaktheit, ihre Gelehrtheit und theoretische Tiefe vermittelte sie nicht nur in komplexen Publikationen. Sie bleibt ganz besonders durch ihre nachdrückliche Art zu sprechen und zu erklären in Erinnerung. Ihre unverwechselbare Stimme haben wir im Ohr, wenn wir uns in großer Dankbarkeit von ihr verabschieden.
 

Prof. Dr. Marian Döhler, Dekan der Philosophischen Fakultät
Prof. Dr.Christoph Bühler, Geschäftsführernder Leiter des Instituts für Soziologie
Prof. Dr. Mechthild Bereswill, Professorin für Soziologie sozialer Differenzierung und Soziokultur, Universität Kassel
Prof. i.R. Dr. Gudrun Ehlert, Professorin für Sozialarbeitswissenschaft, Hochschule Mittweida